Die Nukak Makú: Vertrieben aus dem Paradies

Sie besitzen fast nichts – und kennen doch den größten Reichtum: Freiheit. Während wir Dinge anhäufen, haben die Nukak nur ihr Wissen und das, was sie tragen können. Ihr Vermögen ist die Kunst, im Regenwald zu leben und ihn zu kultivieren, statt ihn zu zerstören.

Die Nukak im abgelegenen Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Brasilien gehören zu den letzten nomadischen Jägern und Sammlern der Erde. Sie ziehen durch den Regenwald, errichten temporäre Lager aus Palmblättern, jagen, fischen und kennen über 300 essbare Pflanzenarten. Ihre Existenzform ist so alt wie die Menschheit selbst. Bis vor kurzem führten sie ein außergewöhnlich gutes Leben. Heute sind sie ein Volk am Abgrund – vertrieben aus ihrem eigenen Paradies. 

Im Schatten des Kautschukbooms:
Die Flucht der Nukak

Ende des 19. Jahrhunderts schnellte die weltweite Nachfrage nach Kautschuk in die Höhe. Was in London, New York, Iquitos und Manaus als Wirtschaftswunder gefeiert wurde, entfesselte im Inneren des Amazonas eine Hölle. Bewaffnete Geschäftemacher und skrupellose Ausbeuter drangen, angetrieben von Profitgier, ungehindert in den Urwald ein. Die indigenen Völker wurden verfolgt, versklavt und massakriert. Konservativen Schätzungen zufolge forderte die Ära des Kautschukbooms den Tod von Hunderttausenden Indigenen. Viele Gemeinschaften verloren bis zu 90 % ihrer Bevölkerung, andere wurden vollständig ausgelöscht.

In dieser Ära des Terrors begann der erste Exodus der Vorfahren der heutigen Nukak. Damals gehörten sie noch zum weiter nördlich lebenden Volk der Kakua und wurden aus Angst dazu getrieben, in den tiefsten Urwald vorzudringen. Ihre Flucht in die Sümpfe und Wälder des heutigen Departamentos Guaviare war keine Migration: Es war ein Verschwinden.

Dort blieben sie fast ein Jahrhundert lang unsichtbar, nicht nur für die nationale Gesellschaft, sondern auch für benachbarte indigene Völker. Diese selbst auferlegte Isolation war ihr Schutz und ihr Schild. Sie ermöglichte es ihnen, ihre Weltanschauung, ihre soziale Struktur und ihr angestammtes Wissen über den Wald zu bewahren. Dennoch bleibt selbst der dichteste Wald nicht für immer undurchdringlich.

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Der zweite Exodus: Coca, Krieg und
das Ende der Freiheit

In den 1980er Jahren zerbrach die Moderne gewaltsam in ihre Welt. Diesmal waren es Guerillakämpfer, Abenteurer und bewaffnete kriminelle Gruppen. Auseinandersetzungen verwandelten ihr Territorium in ein Kriegsgebiet. Ihr Wald wurde zerschnitten und gerodet für Kokaanbau, Rinderviehzucht und illegale Palmölplantagen. Was Jahrtausende überdauert hatte, brach in wenigen Jahren zusammen.

Ganze Gemeinschaften wurden gewaltsam vertrieben und in eine fremde Welt gezwungen. Krankheiten, gegen die sie keine Abwehrkräfte besaßen, dezimierten sie und der Verlust ihres Landes zerstörte die Grundlage ihrer nomadischen Existenz.

Das Erlöschen eines Kosmos

Doch der Verlust ist nicht nur physisch. Wenn ein Volk, das über 300 essbare Pflanzenarten unterscheiden kann, das die Sprache der Tiere und das Geheimnis jeder Wurzel kennt, aus seinem Wald vertrieben wird, dann verschwindet nicht nur eine Gemeinschaft.

Es erlischt ein ganzer Kosmos von Wissen. Ein lebendiges Archiv, das nicht in Büchern, sondern in Liedern, Geschichten und gelernten Bewegungen durch den Wald gespeichert war. Mit jedem Ältesten, der stirbt, ohne sein Wissen weitergeben zu können, verblasst eine einzigartige Sicht auf die Welt. Unwiederbringlich.

Nukak Makú boy smiling

Warum ihre Geschichte uns alle angeht

Die Nukak Makú sind heute beides: Beweis für die außergewöhnliche Vielfalt des menschlichen Lebens, und Warnung vor den Kosten unserer sogenannten Entwicklung.

Während wir in totaler Vernetzung die Verbindung zur Natur verlieren, verkörpern sie ein Beziehungsverhältnis zum Regenwald, das über Jahrtausende gewachsen ist. Eine organische Koexistenz mit außergewöhnlicher Kenntnis von Pflanzen, Tieren und Jahreszeiten.

Ihre Geschichte zeigt nicht, wie der Fortschritt einer Gesellschaft die andere assimiliert; sie zeigt den brutalen Zusammenprall zweier Welten, bei dem die eine die andere gewaltsam vernichtet. Vor allem aber erinnert sie uns daran, dass das ‘Paradies’ nicht verloren geht, weil Menschen anders leben, sondern weil eine Art zu leben die andere auslöscht.

Im Einklang mit dem Wald: Kultur und Lebensweise der Nukak

Das tägliche Leben der Nukak verkörpert Effizienz und jahrtausendealtes Wissen. Diese intime Kenntnis ihrer Umwelt ist weit mehr als praktisches Können. Das Wissen, mit ihr zu leben, und die Fähigkeit, sie zu verstehen, beruhen auf einem spirituellen Verhältnis zur Natur, das in ihrer vielschichtigen Kosmovision und einer symbolreichen Mythologie verankert ist. Diese durchdringen ihr alltägliches Leben und jeden Aspekt ihrer Kultur.

Sie navigieren durch den Regenwald mit einer Präzision, die Ethnologen immer wieder beeindruckt. Sie kennen eine unglaubliche Vielfalt an essbaren Pflanzen und Wurzelarten, besitzen ein großes Wissen in der Naturmedizin, lesen Tierspuren mit erstaunlicher Genauigkeit und kennen die Migrationsmuster der Tiere. Zudem sind sie sehr begabt im Jagen mit Curare-Pfeilen aus Blasrohren – eine präzise Alchemie aus fünf Pflanzen, die Beute aus 30 Metern lähmt – und bewegen sich durch scheinbar undurchdringliches Dickicht, als wäre es ein vertrauter Garten.

Ihr profundes Wissen über Pflanzen setzen sie auch bei der Fischjagd ein: Sie behandeln kleine Nebenarme mit betäubendem Pflanzensaft und fischen so für die Gemeinschaft. Parallel dazu pflegen sie gezielt Palmenwälder aus Buriti, Miriti und Açaí, die Früchte, Fasern und fermentierte Getränke für kommende Generationen liefern – eine uralte Form nachhaltiger Kreislaufwirtschaft.

Nukak camp 1

Leben in Bewegung

Ihr soziales Leben organisiert sich in kleinen, mobilen Familiengruppen. Anders als viele Amazonasvölker, die entlang der Flüsse siedeln, wählen die Nukak bewusst die Tiefe des Waldes. Dort, im Inneren des Regenwaldes, finden sie ihre Ressourcen und ihre Sicherheit.

Ihr Dasein ist von ständiger Bewegung geprägt. Selten bleiben sie länger als drei bis fünf Tage an einem Ort. Diese extreme Mobilität ist keine Rastlosigkeit, sondern ökologische Klugheit.

Indem sie weiterziehen, bevor Ressourcen erschöpft sind, erhalten sie das Gleichgewicht des Waldes. Der Wald regeneriert sich hinter ihnen; sie hinterlassen kaum Spuren. Ihre leichten Palmblatt-Hütten, in denen sie leben, entstehen in Stunden und verschwinden nach wenigen Tagen spurlos.

Nukak standing in the Jungle

Die Kunst, nichts zu besitzen

Diese Lebensweise ist Meisterschaft der Mobilität. Alles, was sie besitzen, muss auf ihren Schultern durch den Wald wandern können. Ihr gesamter Haushalt lässt sich in Minuten packen: Die kunstvoll geknüpften Faserhängematten – ihr wichtigster Besitz – werden eingerollt. Tontöpfe, Werkzeuge und wenige andere Gegenstände verschwinden in selbstgeflochtenen Tragkörben. Dann zieht die Gruppe weiter.

Was von außen wie Askese wirkt, ist in Wahrheit die größte Autonomie – für sie die Essenz der Freiheit. Keine Anhäufung, kein Ballast, keine Abhängigkeit von Dingen. Ihr Reichtum liegt nicht in dem, was sie tragen, sondern in dem, was sie wissen.

Nomadische Jäger und Sammler

Ihre Ernährung ist von beeindruckender Vielfalt: Fisch, Wild, Schildkröten, Dutzende Fruchtarten, Nüsse, Insektenlarven, wilder Honig. Eine gesündere oder ökologisch nachhaltigere Ernährung ist schwer vorstellbar – und doch ist dies nur die halbe Geschichte ihrer tiefen Beziehung zum Wald.

Die Nukak sind nicht nur Nutzer des Waldes, sondern auch seine Gestalter. Wenn sie einen Lagerplatz verlassen, hinterlassen sie bewusst Samen und organische Abfälle. Sie wissen genau, dass daraus ihre bevorzugten Fruchtbäume und Nutzpflanzen hervorgehen werden. Kehren sie Monate oder Jahre später in das Gebiet zurück, schlagen sie ihr Lager neben diesen nun herangewachsenen „Gärten“ auf – nicht darauf. So bleibt die Ernte für den nächsten Besuch intakt.

Diese Praxis ist weit mehr als nur Sammeln. Es ist eine Form nachhaltiger Waldnutzung, perfektioniert über Jahrtausende hinweg. Der Wald, durch den die Nukak ziehen, ist nicht „unberührt“ – er ist geprägt von Generationen geschickter Manipulation. Ihre Fußabdrücke sind Samen, und ihre Lager werden mit den Jahren zu Fruchthainen.

Eine neuntausend Jahre alte Tradition

Die Wurzeln dieser Lebensweise reichen extrem weit zurück. Am archäologischen Fundort Peña Roja („Roter Felsvorsprung“) am Caquetá-Fluss, einem Amazonas-Zufluss in Kolumbien, fanden Archäologen Belege für Jäger- und Sammlergemeinschaften, die dort bereits um 7000 v. Chr. existierten. Der Ort liegt nahe dem heutigen Siedlungsgebiet der Maku-Völker.

Neben Steinwerkzeugen entdeckten Forscher Tausende Samen beliebter Palmenarten: Buriti, Mirití, Bacaba, Açaí. Diese über 9.000 Jahre alten Funde belegen nicht nur Nutzung, sondern gezielte Verbreitung und Pflege. Die Menschen veränderten die Zusammensetzung des Waldes systematisch. Was wir heute als „natürliche“ Palmendominanz wahrnehmen, ist oft menschengemacht.

Die Kontinuität ist verblüffend: Dieselben Techniken, dieselbe ökologische Intelligenz, dieselbe Mobilität – über neun Jahrtausende hinweg. Die Kultur der Nukak ist kein primitives Überbleibsel, sondern ein lebendiges Zeugnis einer der erfolgreichsten Anpassungen an den tropischen Regenwald, die die Menschheit je entwickelt hat.

Während unsere landwirtschaftlichen Systeme den Boden im Amazonasgebiet nach wenigen Jahrzehnten erschöpfen und eine verwüstete Landschaft hinterlassen, haben die Nukak ein System geschaffen, das den Wald seit Jahrtausenden regeneriert statt zerstört

Nakuk woman portrait

Der Mythos vom unberührten Regenwald

Die Bezeichnung „unberührter Regenwald“ zeugt von einem fundamentalen Irrtum: Die Vorstellung, der Amazonas sei ein endloses, grünes Niemandsland, das nur darauf wartet, vereinnahmt zu werden, ist ein Mythos. Diese Sichtweise ist nicht nur falsch, sie radiert die wahre Geschichte eines ganzen Kontinents aus.

Denn der Amazonas war niemals unbewohnt. Über Jahrtausende war er eine von indigenen Kulturen gestaltete und bewahrte Landschaft. Lange vor der europäischen Kolonisation existierten hier  organisierte Gesellschaften, die den Wald nicht zerstörten, sondern ihn in eine produktive Heimat verwandelten, mit Siedlungsnetzen, Erdbauten und einem beeindruckenden Wissen nachhaltiger Waldnutzung. Archäologische Spuren belegen diese andere Welt: Geoglyphen, Ruinen städtischer Siedlungen und Terra-preta-Böden, Orte, die einst Zehntausende Menschen beherbergten.

Die immense biokulturelle Vielfalt des Amazonas, manifestiert in über 200 indigenen Sprachen, ist keine Randkulisse, sondern die treibende Kraft dieses Ökosystems. Die heutige Vielfalt bestimmter Nutzpflanzen ist direktes Erbe indigener Waldgestaltung. Den Amazonas zu erhalten heißt daher, seine Bewohner zu schützen.

Es bedeutet, jene Gemeinschaften zu unterstützen, die hier seit unzähligen Generationen leben, als seine besten Hüter und Wächter. Ihr Wissen ist unser Kompass in der ökologischen Krise. Indigene Völker sind es, die die Sprache des Waldes lesen und sprechen, sie sind Mitgestalter seiner Vergangenheit und der Schlüssel zu seiner Zukunft. Sie sind der Regenwald.

Der Segen der Palme

Für Jäger- und Sammlergesellschaften wie die Vorfahren der Nukak sind Palmen keine bloßen Nahrungsquellen – sie sind komplette Versorgungssysteme.

Die majestätische Buriti-Palme ist ein mobiles Versorgungssystem: nahrhafte Früchte, stärkehaltiges Herz, Blätter für Dächer, faserige Blattscheiden für Schnüre, „Korken“ für Trinkgefäße. Aus ihrem Saft wird ein fermentiertes Getränk hergestellt. Ihre leichten Stämme dienen als Flöße. Ein einziger Baum, Dutzende Verwendungen.

Die stachlige Tucumã-Palme (Astrocaryum aculeatum) ist noch bemerkenswerter. Ihr gesamter Stamm ist gepanzert mit furchterregenden, stachelschweinartigen Dornen – ein perfekter Schutz vor Fressfeinden. Für indigenes Wissen ist dies keine Barriere, sondern eine Ressource.

Ihre Blattfasern werden zu den haltbarsten Hängematten und Seilen des Amazonas verarbeitet. Die gefürchteten Stacheln selbst werden zu Nägeln, Nadeln, Werkzeugen. Die orangefarbenen Früchte sind exzellente Fischköder. Das Holz ist im Bau hochgeschätzt. Selbst ein bewaffneter Baum wird vollständig genutzt.

Nukak Makú Boy in the forest

Açaí, Nachhaltigkeit und das ökologische Wissen der Nukak

Während die Açaí-Palme (Euterpe precatoria) heute als globaler „Superfood“-Trend gefeiert wird, ist sie für die Völker des Amazonas seit Jahrtausenden ein fundamentaler Bestandteil des Lebens. Auf der Insel Marajó und im gesamten Becken gehören die Büschel der violetten, heidelbeergroßen Früchte zur täglichen Nahrung. Der nahrhafte Saft oder Brei aus Açaí bildet, nach Maniok und Fisch, eine tragende Säule der regionalen Ernährung.

Moderne Analysen bestätigen dieses traditionelle Wissen: Açaí gehört zu den nährstoffreichsten natürlichen Lebensmitteln der Welt, reich an Antioxidantien, essenziellen Fettsäuren und Vitaminen. Was für die lokale Bevölkerung seit jeher Grundnahrungsmittel war, erweist sich als außergewöhnliche Nährstoffquelle.

Für Völker wie die Nukak  geht der Wert der Açaí-Palme weit über die Ernährung hinaus. Ihr ganzes Dasein demonstriert praktizierte Nachhaltigkeit: Ein nomadischer Lebensstil, präzises Verständnis ökologischer Zusammenhänge, minimaler Fußabdruck. Dieses traditionelle ökologische Wissen wurde über Generationen verfeinert. Sie nutzen den Wald nicht nur – sie gestalten und regenerieren ihn, wie die gezielte Förderung von Palmenbeständen zeigt.

Vom Paradis ins Exil

Die Katastrophe begann in den 1980er Jahren. Getrieben von explodierenden Weltmarktpreisen für Kokablätter, rollte eine Welle der Kolonisierung über die Nordwestgrenze des Nukak-Gebietes. Tausende von Siedlern, Spekulanten und Abenteurern strömten in die Region. Die organisierte Kriminalität nutzte das Fehlen staatlicher Autorität: Sie marschierte ein, verwüstete den Wald, handelte nach ihrem eigenen Gesetz. Indigene Gemeinschaften wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben und später auf den eigenen, geraubten Feldern als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.

Für die Nukak eskalierte die Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts zwischen Regierungskräften und der FARC-Guerilla. Ihr angestammtes Territorium wurde zum Kriegsgebiet. Gefangen im Kreuzfeuer, getroffen von beiden Seiten. Ihr Überleben im Wald wurde unmöglich; sie flohen in eine fremde Welt.

Heute blockiert das anhaltende Eindringen krimineller Gruppen die Rückkehr. Was einst ein sicherer Lebensraum war, ist jetzt eine permanente Gefahrenzone. Trotz dieser existenziellen Bedrohung kämpfen die Nukak um das Erbe ihrer Kultur. Sie versammeln sich zu Ritualen und Zeremonien, um ihre Identität gegen den Untergang zu behaupten.

Der Alltag im Exil ist geprägt von Mangel. Nahrungsmittelknappheit ist chronisch, die natürlichen Ressourcen ihres reduzierten Lebensraums reichen nicht mehr aus. Die erzwungene Arbeit auf Koka-Plantagen, verbunden mit eingeschleppten Krankheiten wie Malaria, hat ihre Bevölkerung physisch und spirituell ausgezehrt und sie an den Rand des kollektiven Zusammenbruchs gedrängt.

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Der tödliche Preis des Kontakts

Der erste Kontakt mit der modernen Welt schien zunächst harmlos, beinahe eine Begegnung voller Neugier. Im April 1987 erschien eine Gruppe der Nukak im Bauerndorf Calamar. Die Nachricht verbreitete sich rasch und wurde zur Sensation. Doch was als kuriose Begebenheit begann, markierte den Beginn einer Tragödie. Mit der unaufhaltsamen Ausbreitung von Siedlern wurden weitere Begegnungen unvermeidlich und tödlich.

Der Preis war verheerend. Die Nukak besaßen keine Immunität gegen eingeschleppte Krankheiten wie Grippe und Masern. Besonders Malaria forderte unzählige Leben; innerhalb weniger Jahre brach ihre Bevölkerung um die Hälfte ein.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrer Vertreibung leben viele Nukak in prekären Verhältnissen, abhängig von sporadischer Nothilfe, gezeichnet von Mangel und Entwurzelung. Die einst reiche, vielfältige Ernährung ist bitterer Knappheit gewichen. Ein Bild dieser Verelendung: Ein einziges Huhn, geteilt unter zwanzig Menschen.

2006 nahm sich ihr Häuptling Mao-be mit dem pflanzlichen Jagdgift seines Volkes das Leben, ein letzter, verzweifelter Akt der Ohnmacht. Freunde berichten, er habe sich aus Scham getötet, weil er seinen Stamm nicht vor der Zerstörung bewahren konnte.

Heute leben die Nukak in provisorischen Siedlungen am Rand von Städten wie San José del Guaviare, geflohen vor dem Chaos ihrer Heimat. In diesem erzwungenen Schwebezustand, ohne Gewissheit einer Rückkehr, bewahren sie ihre Lieder, Rituale und Erinnerungen, ein stilles, widerständiges Ringen um kulturelles Überleben.

Vom Nomadenleben ins Flüchtlingslager

Dreißig Jahre nach ihrer offiziellen Anerkennung durch den kolumbianischen Staat leben die Nukak in einer zerrissenen Existenz. Ihr dramatischer Wandel: Nur noch eine einzige Gruppe im Osten ihres ursprünglichen Territoriums führt das nomadische Leben fort. Die meisten sind sesshaft geworden, wohnen in einfachen Häusern und bewirtschaften kleine Parzellen am Rand der kolonisierten Zonen, Gebiete, die heute von der illegalen Coca-Produktion geprägt sind. Aus Jägern und Sammlern wurden oft Tagelöhner auf diesen Plantagen; die Kunst des Jagens und Sammelns verkümmert.

Die Nukak zählen heute, gemeinsam mit mindestens 32 weiteren indigenen Völkern Kolumbiens wie den Wachina oder Wipiwi, zu den unmittelbar vom Aussterben bedrohten Gemeinschaften. Ein Hoffnungsschimmer bleibt ihr rechtlich anerkanntes Territorium, das 1997 auf über eine Million Hektar ausgeweitet wurde, ein Erfolg des Drucks von Organisationen wie ONIC und Survival International. Doch dieses Schutzgebiet besteht größtenteils nur auf dem Papier; täglich wird es von Siedlern und bewaffneten Gruppen verletzt.

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Der Traum der Rückkehr

Ihr zentraler, existenzieller Kampf gilt der Rückkehr, zurück in die tiefen Wälder, wo sie einst jagten und fischten. Zurück zu jenen waldgartengleichen Lagern, in denen sie Pfirsichpalmen, Chili, Yamswurzeln und Süßkartoffeln pflegten, lebendige Speicher ihres Wissens. In dieser Welt hatten Ölpalmenmonokulturen, Weideland und Coca-Felder keinen Platz. Ihr Verlust ist nicht nur der Verlust einer Heimat, sondern der Zerfall eines gesamten ökologischen und kulturellen Systems.

Ihr Schicksal ist unser Vermächtnis

Die Nukak verkörpern eine Beziehung zum Regenwald, die auf jahrtausendealter Erfahrung beruht. Ihr Wissen über nachhaltige Ressourcennutzung, Waldregeneration und ökologische Kreisläufe ist in einer Zeit ökologischer Krisen von unschätzbarem Wert.

Ihre Geschichte zeigt die verheerenden Folgen eines Wirtschaftsmodells, das kurzfristigen Profit über die langfristige Integrität von Ökosystemen und Kulturen stellt. Der Amazonas steht unter massiver Bedrohung, uralte Gemeinschaften werden entwurzelt und an den Rand der Vernichtung gedrängt.

Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir die Nukak bewundern, sondern ob wir den Mut haben, das Gefüge des Lebens und Wissens, das sie verkörpern, aktiv zu schützen. In ihrem Schicksal spiegelt sich unsere eigene Zukunft.

Für die einen ist der Wald ein lebendiges Wesen,
ein atmender Kosmos aus Spiritualität und Bedeutung.
Für die anderen ist er bloße Ware, ein Lagerhaus aus Holz, Soja, Öl und Gold.
Zwischen diesen Welten klafft ein Abgrund tiefer als jeder Konflikt,
so grundlegend wie der Gegensatz zwischen Schöpfung und Vernichtung,
so lautlos und unheilvoll wie die Stille zwischen Gebet und Urteil.

Author Rolf Friberg

Rolf FribergFriberg